April 24, 2021

Die verlorene Identität

Junge Russen kennen das System Putin. Blicken wir auf eine angepasste Generation?

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Prolog

Der Kronleuchter wirkt wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit. Unter ihm tobt der Alltag. Vom Moskauer Flughafen Scheremetjewo, einem abseits gelegenen Ort am Rande der Stadt, geht es per Direkttransfer in die Empfangshalle der Metro-Station Belorusskaja. Ein spielerisch verzierter Bau mit hellgrüner Fassade ebnet den Weg in das unterirdische Verkehrsnetz. Hier tummeln sich täglich gestresste Berufstätige in ruhmvoller Aura. Steinerne Büsten sozialistischer Heldenfiguren, mosaike Gemälde oder aufwändige Malereien mit historischen Zeitbezügen erinnern an eine vergangene Größe. Auf den Gipfeln der Fassade ragen markante Zwiebeltürme in den Himmel. Der bekannte Architekturstil des sozialistischen Klassizismus vereint viele Stereotypen des heute Russischen. Bauten als Zeichen von Macht und Reichtum, Zeichen eines weltweiten Führungsanspruches.

Und doch hat sich keine Stadt in der jüngsten Vergangenheit so rasant gewandelt und umdefiniert wie Russlands Hauptstadt. In den Außenbezirken ersetzen effiziente Mehrfamilienhäuser den Prototyp des sozialistischen Plattenbaus. In Sichtweite zum Kreml, links des Moskwa-Flusses, ragt ein neues Megaprojekt in den Himmel. Hier, im Geschäftsviertel Moskau City, gedeihen die Ideen des modernen Kapitalismus. Die atemlose Hauptstadt wächst unter westeuropäischen Maßstäben und komplettiert eine widersprüchliche Vielfalt zwischen rückwärts gewandtem Historismus und moderner Superlative. Dabei ist Moskau, gemessen an den Zahlen, schon lange eine feste Größe. Mit knapp 15 Millionen Einwohnern größte Agglomeration Europas und zugleich politisches, wirtschaftliches sowie kulturelles Zentrum im flächenmäßig größten Land der Erde.

Pendelt man durch die Einkaufspassagen am Roten Platz oder vorbei an den Kiosken der Metrostationen, stößt man auf viele Widersprüche. Im Einkaufszentrum GUM im Zentrum der Stadt reihen sich Modemarken aus aller Welt. Neben russischen Pelzen gibt es Uhren der amerikanischen Modemarke Michael Kors zu kaufen. In den dunkleren U-Bahn Passagen erfreuen sich die hölzernen Köpfe Stalins und Putins größter Beliebtheit. Der Stadtwandel spiegelt einen Prozess der Neufindung, der auch 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion nicht abgeschlossen scheint. Damals fiel mit der Mauer in Berlin auch der kommunistische Staat in sich zusammen, es war das Ende einer Großmacht. Erstmals wurde das Experiment einer demokratischen Verfassung gewagt. Unter dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin manövriert sich der Staat nun wieder zurück in alte Zeiten. Innenpolitische Reformprozesse stagnieren. Auf internationaler Bühne strebt der Kreml eine Führungsrolle an. Aktuell in Syrien zeigt es sich sowie schon länger in der Ukraine. Der Expansionsdrang Russlands nimmt zu. Westliche Politikwissenschaftler monieren dabei den autoritären Führungsstil des Präsidenten, demokratische Institutionen wie das Duma-Parlament geraten unter zunehmende Kontrolle.

Der Staat strafft seine Zügel und patriotisiert die Gesellschaft. Wie wächst die junge Generation in solchen Zeiten auf? Welchen Einfluss hat der Staat auf das Denken junger Leute, die sich zwischen Elternkonflikten und Karriereorientierung bewegen? Eine Reise durch Moskau zeigt, wie unterschiedlich die Kinder der einstigen Sowjetunion mit ihrer Situation umgehen.

Die Studenten des Lomonossov

Im akademischen Viertel, Typ Plattenbau, wohnt Alina Ryazanowa. Sie ist Studentin und mag es gerne, hier zu wohnen. Ruhige Atmosphäre, viele Grünflächen, gemütliche Höfe. “Das Leben in der Hauptstadt ist schon manchmal etwas hektisch,” sagt sie. Die 20-jährige Publizistik-Studentin stammt aus Ussurijsk, einer kleinen Stadt im fernsten Osten. Bis zur chinesischen Grenze sind es von dort noch 60 Kilometer. Die Winter sind kälter, die meisten Dörfer haben sich seit Stalin-Zeiten kaum verändert. Russische Provinzbewohner glauben nicht an den Fortschritt. Wer Karriere machen möchte, zieht nach Moskau. Das Umland bekommt von dem Modernisierungsanspruch des Kreml nicht viel zu spüren.

„Hier dürfen sie alles sagen und offen reden.“

Dekanin Prof. Dr. Galina Woronenkowa

Alina sitzt in einem kleinen Raum der Universität. Zeitungsmagazine stapeln sich aus Platzmangel auf dem Boden. Fenster gibt es keine. In der Mitte ein gedeckter Tisch, Kommilitonen haben Kaffee und Kuchen serviert. Eine kleine Gruppe von Studenten hat sich zusammengefunden, um mit uns über die aktuelle Lage zu diskutieren. Sie alle sind Studenten des Freien Russisch-Deutschen Instituts für Publizistik. Ihr Berufsziel ist der Journalismus. Die journalistische Fakultät der Lomonossow-Universität in Moskau und das F.A.Z.-Institut für Medienentwicklung und Kommunikation GmbH in Frankfurt am Main entwickelten den stufenweisen Aufbau eines bilateralen Kooperationsprogrammes. 1994 wurde es offiziell eröffnet. Auch in Zeiten politischer Entfremdung wird eine westliche Anbindung staatlicher Universitäten noch gefördert.

Dekanin Prof. Dr. Galina Woronenkowa grüßt freundlich. “Hier dürfen sie alles sagen und offen reden,” betont sie ermutigend. Nur ein paar einführende Sätze, dann überlasst die Dozentin das Wort ihren Studenten. Die 21-jährige Anastasia Arinushkina übernimmt die Moderation. Anastasia wirkt entschlossen. Sie ist es gewohnt, vor Leuten zu sprechen. “Wir müssen auch über unsere Beziehung der Medien in Russland und Deutschland reden,” mahnt sie, als die vereinzelten Tischgespräche ihrer Kommilitonen nicht abklingen wollen. Bei den Paralympischen Spielen in Sotschi 2014 berichtete sie als Redakteurin einer mehrsprachigen Wettbewerbszeitung. Die junge Studentin ist aufgeschlossen, lacht viel und herzlich.

Ist die Ukraine der Anfang eines neuen Kalten Kriegs? Auf vk.com, dem russischen Facebook, sind veraltete Vorstellungen noch sehr verbreitet. “Manche Leute denken wirklich, Amerika kommt und erobert uns,” beschreibt Anastasia das Meinungsbild in sozialen Netzwerken. Sie selber liest viel Zeitung, auch deutsche Medien. Ein Stapel von “Spiegel”-Ausgaben liegt noch verteilt in der Ecke des Raumes. Die Studenten haben viele Freiheiten. Auch Auslandsaufenthalte gehören zum Programm des Studiums. Vorwiegend in Deutschland.

Für die Medienausbildung gilt jedoch: Die Freiheiten des Studiums haben Grenzen. Und die beginnen meistens am Übergang in den Berufsalltag. Auf der Rangliste der Pressefreiheit, jährlich herausgegeben von der internationalen Organisation “Reporter ohne Grenzen”, belegt Russland aktuell Platz 148. Im Kampf um Meinungshoheit hat die Regierung unter Putin eine dominante Stellung errungen. Seit 2007 gibt es eine offizielle “Aufsichtsbehörde für Massenmedien, Kommunikation und den Schutz des kulturellen Erbes” ( Roskomnadsor). Die staatliche Behörde soll Beiträge auf extremistische Inhalte überprüfen. Oft geht es um viel mehr als das. Zu spüren bekommen das vor allem freie Internetblogger und kritische Journalisten, die sich schon lange über den rigiden Umgang im Netz ärgern.

„Wenn sie so wollen, gab es mehrere Berlusconis.“

Matthias Schepp, Spiegel-Redakteur in Moskau

Matthias Schepp, Spiegel-Redakteur in Moskau, vermisst die einst geltende Medienfreiheit im Land. “Ende der 90er Jahre gab es eine Vielfalt der Presse, die noch über das Meinungsspektrum in Deutschland hinausging. Von Monarchisten, Kommunisten bis zu Liberalen und Demokraten. Hier durfte jeder publizieren.” Nur kurze Zeit später übernahmen die Oligarchen im Land das Ruder, die anarchischen Zustände hatten ein Ende. “Wenn sie so wollen, gab es mehrere Berlusconis.” Durch Putin hat sich das Machtgefüge noch einmal verschoben. Den Oligarchen gehören noch wichtige Medien. Ohne das Wort des Präsidenten geht aber nichts mehr. Staatstreue Konzerne haben den Markt monopolisiert. Die Gazprom-Media AG, Tochterunternehmen des einflussreichen Erdgaskonzerns, verfügt über die größten Anteile. Dem Großkonzern gehören die meinungsstarken TV-Sender NTW sowie die Tageszeitung “Rossijskaja Gaseta”, eine der meistgelesenen im Land. Nur wenige unabhängige Medien können dem wirtschaftlichen Druck der Regierung noch standhalten.

Nadeshda Prusenkowa, Sprecherin der regierungskritischen Nowaja Gaseta, gehört zu dieser heute seltenen Minderheit. Die international renommierte Zeitung recherchiert seit Jahren unabhängig. Ein Gang durch die Redaktionsräume zeigt, wie es um aufwändigen Journalismus bestellt ist. Mit einer Auflage von etwa 250 000 Exemplaren findet die Zeitung in der Bevölkerung relativ wenig Beachtung. Es fehlen die finanziellen Mittel. Im Mai 2015 musste Nadeshda die Einstellung der Printausgabe bekannt geben.

„Natürlich fürchte ich jede Sekunde, aber wer soll die Arbeit denn machen, wenn nicht wir.“

Nadeshda Prusenkowa, Sprecherin der regierungskritischen Nowaja Gaseta

Die Redaktion wird vom Zweckoptimismus zusammengehalten. Sechs ihrer Kollegen sind in den letzten 10 Jahren ermordet worden. Nadeshda, selbst noch jung, hat das jedes Mal schwer getroffen. Aufhören aber sei keine Option. “Ich habe sehr lange und sehr eng mit einer der verstorbenen Mitarbeiterinnen zusammengearbeitet und mache weiter. Natürlich fürchte ich jede jede Sekunde. Aber wer soll die Arbeit denn machen, wenn nicht wir?” Anerkannt ist die Zeitung hauptsächlich im Ausland. Für die mutige Berichterstattung hatte die Redaktion 2007 den deutschen Henri-Nannen-Preis erhalten. Nowaja Gaseta gilt als oppositionell, Nadeshda würde den Begriff aber lieber vermeiden. “Wir versuchen einfach, unsere Arbeit zu machen.” Ein Ereignis steht diese Woche besonders im Fokus. Auf der Moskauer Kremlbrücke wurde zwei Tage zuvor Boris Nemzow ermordet. Im Land galt er als einer der wichtigsten Kritiker des Präsidenten. Der 56-jährige hatte zwischen 1997 und 1998 selbst als stellvertretender Ministerpräsident gearbeitet, als demokratischer Reformer war er ein aussichtsreicher Kandidat auf die Nachfolge des damaligen Präsidenten Jelzin. Der entschied sich jedoch für Putin. Nemzow wechselte in die Opposition und gründete wenige Jahre später die Protestbewegung “Solidarnost”. Nadeshda trauert um einen “guten Freund der Redaktion”. In ihrer heutigen Titelgeschichte veröffentlichen sie ein bisher unveröffentlichtes Portrait des ehemaligen Oppositionspolitikers. Wenige Tage nach dem Tod Nemzows schien ein Ruck durch die Gesellschaft zu gehen. Am Trauertag marschierten Tausende über die große Moskwa-Brücke, viele beschuldigen den Kreml und nehmen kein Blatt mehr vor den Mund. “Helden sterben nie”, so der Slogan auf einem Transparent. Selten waren die Protestrufe gegen die politische Führung unter der Ära Putin so laut wie an diesen Tagen. Ginge es nach Nadeshda, müsste das kritische Bewusstsein noch stärker sein. Dennoch weiß sie, dass die Unruhen der vergangenen Tage Momentaufnahmen bleiben. “Es gibt verschiedene patriotische Vereine, die den Begriff Patriotismus missbrauchen. Es ist kein Geheimnis, dass viele Studenten zu den Demonstrationen für Putin gehen müssen, da sie, wenn sie nicht hingehen, keine Noten bekommen. Oder sie bekommen Geld, deshalb gehen sie hin.”   Trotzdem gebe es eine positive Entwicklung. “Junge Leute sind offener für die Außenwelt und lernen fremde Sprachen. Damit sind sie freier als die Generation ihrer Eltern.”

Im Universitätsraum erinnert sich Alina an die Berufsträume ihrer Jugend. Journalistin wollte sie werden, schon immer. Geschichten aufdecken. Ereignisse hinterfragen. Das war ihr Traum. “Ich frage mich oft, wer hinter bestimmten Entscheidungen steckt.” Unterstützung für ihre Arbeit bekam sie selten. Im Heimatdorf stießen Recherchen über den Zustand einer maroden Kirche auf taube Ohren. Die zuständige Behörde verweigerte Informationen und reagierte mit Unverständnis. Vermutlich geht es jetzt doch in eine andere Berufsrichtung: “mehr mit Design.”

Die Schmiede des Patriotismus

Bei den Parlamentswahlen 2011 hatten mehr als 100.000 Menschen für die Durchführung freier Wahlen demonstriert. “Macht dem Volke” riefen sie, lauter als zuvor hallten die Rufe nach Reformen und Umsturz. Knapp drei Jahre später kommt es zu den Unruhen in der Ukraine. Die zunächst friedliche Protestbewegung stürzt den unter Betrugsverdacht geratenen Präsidenten Viktor Janukowitsch, die Ostukraine wird zum Dauerbrennpunkt. Am 16. März 2014 annektiert Russland in einem völkerrechtlich umstrittenen Referendum die ukrainische Halbinsel Krim. Der launige Nikita Chruschtschow, zu seiner Zeit KPdSU-Generalssekretär, hatte die Region der Ukraine 1954 überraschend und weitestgehend unbemerkt als Geschenk überlassen, nun fordert der aktuelle Präsident die Halbinsel zurück. Für Putin ist das ein Wendepunkt, denn viele Russen sehen keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Unterfangens. Umfragewerte des unabhängigen Meinungsforschungsinstitutes Lewada-Center messen eine Steigerung seiner Popularität um 11 Prozentpunkte. Seitdem stagniert die Anerkennung des Präsidenten bei Höchstwerten um 88 Prozent.

Patriotismus liegt wieder im Trend. Die Studentin Anastasia redet von “unseren Leuten auf der Krim.” Sie ist sich sicher, dass die Krimtataren jetzt sehr froh darüber sind, wieder zu Russland zu gehören. Ihre Aussagen sind klar und deutlich, der Krimfall ist eine eindeutige Sache. Erinnert das nicht eher an Kalter Krieg Rhetorik? Maxim räuspert sich kurz und überlegt lange. “Von beiden Seiten, ja.” Alina kann ihrer Kommilitonin nicht zustimmen: “Es gibt verschiedene Meinungen. Ich glaube nicht, dass in Sewastopol jetzt alle zufrieden sind.”

Abseits des akademischen Umfeldes existiert eine Vielzahl von Jugendgruppen, die sich politisch organisieren. Die Heinrich-Böll-Stiftung führt in einer Untersuchung vier Strömungen auf. Von Kreml-loyalen Gruppierungen, über links-kommunistisch bis zu rechts-national und den weitaus schwächer vertretenen westlich-liberalen. Die Gemengelage ist diffus. Auch eine von Putin herangezüchtete Staatsjugend gibt es bereits, die Nashi-Bewegung wurde vom Kreml initiiert und geht für diesen durch Feuer und Eis. Als wichtiges Motiv gelten laut Studie vor allem Karriere- und Berufschancen, das Interesse an politischen Parteien dagegen sei eher oberflächlich.

„Die Menschen auf der Krim sind sehr stolz, wieder zu Russland zu gehören.“

Anastacia Promskaya, Vertreterin der jungen Anti-Maidan Bewegung

Durch das gut strukturierte U-Bahn-Netz der Stadt geht es weiter in die außen liegenden Bezirke. Auf einem Gelände von der Größe eines Flugplatzes befindet sich der Poklonnaja Gora-Komplex, besser bekannt unter dem Namen “Siegespark.” An seinem Ende ragt das “Museum des Großen Vaterländischen Krieges” hervor. Der Begriff ist ein Synonym für den Zweiten Weltkrieg, in dem rund 6,2 Millionen Soldaten der Roten Armee ihr Leben verloren. Angesichts der hohen Verluste wundert es nicht, dass der 9. Mai 1945 noch heute als der größte Tag in der russischen Geschichte gilt. Anastacia Promskaya hat sich bewusst für diesen Ort entschieden. Sie und ihre Gruppe möchte zeigen, welches Leid der Krieg über Russland brachte. Die junge Frau im schwarzen Blazer ist Mitglied der jüngst gegründeten “Anti-Maidan Bewegung”, wo die Absetzung Viktor Janukowitschs nichts anderes als ein illegaler Putsch ist. In Moskau gingen Zehntausende auf die Straße, um gegen die proeuropäische Maidan-Bewegung zu demonstrieren. Wie konnte die Gruppe in kurzer Zeit so stark wachsen? Nowaja Gaseta vermutet, dass ein Großteil der Teilnehmer bezahlt wurde. Handy-Videos einer Journalistin sollen das beweisen. Aus welcher Quelle das Geld stammt, bleibt unklar.

Letztlich spielt das auch keine große Rolle, da bereits patriotisierte Jugendliche auch ohne finanzielle Anreize bereitwillig mitarbeiten. Anastacia Promskaya vertritt die Ansichten ihrer Bewegung mit der Entschlossenheit einer Werbefrau. “Es ist unser gutes Recht, sich mit unserem Land wieder zu vereinen,” sagt sie. “Damals hat sich hier keiner beschwert, als West- und Ostdeutschland sich vereinigt haben. Heute bekommen wir von den Amerikanern Sanktionen, wenn wir die Krim zurück haben wollen.” Auch sie studiert an der Lomonossow-Universität in Moskau. Dort habe sie auch einiges über das politisches System Deutschlands gelernt. Ihre politischen Haltungen klingen jedoch nicht wissenschaftlich-neutral. “Eine Gewaltenteilung schadet dem Staat. Russland braucht einen starken Staat mit einem starken Präsidenten.”

In der Ausstellung zum Krieg trifft man nur selten auf stichhaltige Fakten. Der Museumsführer deutet auf heroische Kriegsszenen und kann nebenbei auch ein sowjetisches Kriegslied vorsingen. Die geräumigen Gänge gleichen einem audiovisuellen Erlebnispalast. An jeder Ecke erklingt Musik, die den Besucher unmittelbar in die Reihen der Roten Armee zu versetzen scheint.

Die Glorifizierung des Kriegsendes ist ein fester Bestandteil der Putin’schen Erinnerungskultur. Das hat gute Gründe: Der Sieg im Zweiten Weltkrieg ist einer der wenigen, historischen Daten, auf die ein Großteil der Russen mit Stolz zurückblickt. Die Verbrechen des Stalinismus verblassen vor den großen Taten im Zweiten Weltkrieg. Der hohe Preis des Krieges sowie der Zerfall der Sowjetunion bleiben als Schattenseiten in Erinnerung.  Etwa 58 Prozent aller Befragten einer Lewada-Studie wünschen sich die Sowjetunion zurück. So lassen sich auch anti-amerikanische Tendenzen erklären, die von jungen Vertretern der Anti-Maidan Bewegung mitgeprägt werden. Die Jugend Russlands ist aufgewachsen in der Zeit des postsowjetischen Umbruchs, der von vielen heute als Zeit des Chaos und der Unsicherheit empfunden wird. Daher ist vor allen bei jungen Leuten eine große Beliebtheit Putins zu erkennen. Sie scheinen froh über ein Gefühl der Sicherheit, wie es vom Kreml vorgelebt wird.

„Die Nacht, in der Putin gewählt wurde, ist wie eine Legende für unser Land.“

Aljona Arschinowa, Politikerin bei „Einiges Russland“

Vor allem beruflich wünschen sich die meisten mehr Sicherheit. Kein Wunder also, dass die russische Jugend ihre Zukunft dort sucht, wo die Sicherheit am größten scheint: An der Seite des Kreml. Dort trifft man Karrierefrauen wie Aljona Arschinowa. Aljona, Politikerin bei der Putin-nahen Partei “Einiges Russland”, weiß sich gut zu verkaufen. “Ich würde vorschlagen, dass wir Freunde bei Facebook werden, dann können Sie unser Programm direkt verfolgen,” schmunzelt sie. Aljona ist elegant gekleidet, immer ein Lächeln auf den Lippen. Nach außen gibt sie sich als die typische Politikerin: redegewandt, tatkräftig und offen für Fragen. Von der Jugendorganisation Putins bis in das Parteikomitee der “United Russia” hat sie es schon geschafft. Was sich wie ein klassischer Lebenslauf einer Berufspolitikerin liest, klingt in ihren Worten wie ein Märchen: “Ich wollte schon immer ein Teil von Putins Partei werden. Die Nacht, in der Präsident Putin gewählt wurde, ist wie eine Legende für unser Land. Es war ein kleiner Traum von mir, dahin zu kommen.” Heute will sie sich um bessere Bildungschancen sorgen. “Ich glaube, die Kindheit ist die wichtigste Phase eines Menschen. Wir wollen Kindern mehr Aufmerksamkeit schenken und Kindergärten für jeden zugänglich machen.” Es geht um Chancengleichheit, Bildungschancen, mehr Wahlfreiheiten. Das klingt alles sehr gut.

Chancengleichheit für alle? Da gibt es nur einen Haken. Die Protestmärsche gegen Putin während der Wahlfälschungen Ende 2011 wurden zum größten Teil von jungen Leuten organisiert. Die sehen das nicht ganz so wie Aljona. “Sie wollen gegen alles Böse demonstrieren. Ich kenne einige Freunde, die dort waren. Aber wenn wir Ihnen zuhören sollen, müssen die uns auch zuhören.” Aljona wirkt trotzig, ihre Arbeit möchte sie sich ungerne kaputt reden lassen. “Die Leute müssen darauf vertrauen, dass es richtig ist, was wir machen. Ich habe keinen leichten Job.” Nur wenige Stunden zuvor hatten die Vertreter der Anti-Maidan Bewegung sehr Ähnliches über die Arbeit der Regierung gesagt. Doch wie kann man der vertrauen, wenn Vorwürfe von Korruption und Wahlfälschung im Raum stehen? Von Aljona werden wir das nicht mehr erfahren. Sie hat inzwischen das Thema gewechselt.

Epilog

Jugendliche in Russland sind ein Querschnitt der Gesellschaft. Ihre Weltansichten sind oft so unterschiedlich wie die Epochen der russischen Vergangenheit. Nur selten lässt sich die postsowjetische Generation auf einen Nenner bringen. Auf der Reise durch Moskau treffen wir Karrieremenschen, Weltverbesserer und Austauschliebende. Die Studenten der Großstadt sind weltoffen, dennoch nicht grenzenlos frei. Junge Reisende wie Anastasia Arinushkina wissen um die Probleme der Putin-Regierung, schätzen aber auch die Stärke Russlands. Der kitschige Glanz der Sowjetära scheint viele noch nicht loszulassen. Dabei projiziert die Nachkriegsgeneration in Wirklichkeit ein geschöntes Bild von der Vergangenheit, wo der “Tag des Sieges” größer leuchtet als die Schattenseiten des Stalinismus und der Massenarmut auf dem Land. Dabei fürchten sich die meisten vor dem Machtmonopol im Kreml. Manche gehen ihren eigenen Weg. Die Journalisten des “Freien Russisch-Deutschen Instituts für Publizistik” werden ihre Zukunft vermutlich in Deutschland verbringen. Wer bleibt, sucht sein Glück oft in der Nähe des Machtzentrums. Kritik ist die Ausnahme. Wenige Organisationen wie das Sacharow-Zentrum oder das Meinungsforschungsinstitut Lewada-Center betreiben unabhängige Aufklärung.

Die Jugend im heutigen Russland ist vor allem orientierungslos. Wirtschaftliche und ideologische Umbrüche haben sie verunsichert und es scheint, als sei die moderne Gesellschaft noch immer auf der Suche nach gemeinsamen Werten. Aljona glaubt an Veränderung. “Vielleicht werden wir bald eine russische Präsidentin haben,” sagt sie noch. Sie selber könne sich das sehr gut vorstellen. Fest steht: Eine Opposition hätte es unter ihrer Führung sicher nicht leichter.

Diese multimediale Reportage ist am 24. April 2021 im Online-Magazin „Standpunkt“ erschienen.

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